Neue Studie zeigt: Sexarbeitende in der Schweiz brauchen Schutz vor Gewalt

Eine neue Erhebung von ProCoRe zeigt: Übergriffe und Gewalt sind in der Sexarbeit auch in der Schweiz weit verbreitet. Eine neu gegründete Schweizer Koalition für die Rechte von Sexarbeitenden fordert die Politik zu Massnahmen auf. Sie warnt aber vor Freierkriminalisierung, welche die Situation der Sexarbeitenden noch weiter verschlechtern würde.

Die explorative Studie untersucht die Gewalterfahrungen von 24 Sexarbeiterinnen in der Schweiz, darunter 22 cis Frauen und 2 trans Frauen, im Alter von 28 bis 63 Jahren. Die meisten von ihnen haben einen Migrationshintergrund und halten sich zum Grossteil legal in der Schweiz auf. Sie arbeiten auf der Straße, in Salons, Hotels oder zu Hause und haben mehr als drei Jahre Berufserfahrung in der Sexarbeit. Die Ergebnisse bestätigen Forschungserkenntnisse aus anderen Ländern: Auch in der Schweiz sind Sexarbeitende überproportional von Gewalt betroffen.

Zu den häufigsten Formen der Gewalt gehört sexualisierte Gewalt durch nicht einvernehmliches Entfernen des Kondoms (sog. «Stealthing») oder dessen Versuch, das 70% aller Befragten betrifft. Rund die Hälfte der Befragten haben Diskriminierung, Beleidigungen und Diebstahl von Geld oder Gegenständen erlebt. Freier sind die Haupttäter dieser Gewalt, aber auch Passant*innen, Kolleg*innen und Ehepartner werden genannt. Der Grossteil der Sexarbeitenden (62%) hat ihre Erfahrungen mit jemandem geteilt und Unterstützungsangebote genutzt, obwohl die Hemmschwelle aufgrund von Angst, Scham oder Unkenntnis über die verfügbaren Dienste nach wie vor besteht. Gleichzeitig verfügen sie über Schutzstrategien, um ähnliche Situationen zu vermeiden oder um sich nach einem solchen Vorfall zu erholen.

Die Sexarbeit ist nicht die Ursache der Gewalt

Die Ursache der Gewalt besteht in der der Mehrfachdiskriminerung, welche die Befragten erleben. Aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterinnen sind sie einem höheren Gewaltrisiko ausgesetzt. «Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Sexarbeitenden senkt zusätzlich die Hemmschwelle, Gewalt auszuüben», sagt Rebecca Angelini von ProCoRe. «Auch die Gewalt, die von den Freiern ausgeht, kann und darf nicht losgelöst von der allgemeinen geschlechtsspezifischen Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen betrachtet werden, die alle Gesellschaftsschichten betrifft», ergänzt
Cyrielle Huguenot von der Schweizer Sektion von Amnesty International.

Sexarbeitende verfügen über Strategien und wissen sich zu schützen

Grundsätzlich geben die Befragten an, individuelle Strategien zu haben, um sich vor Gewalt zu schützen oder sich von einem Vorfall zu erholen. Auch die Anlaufstellen werden rege genutzt. Dennoch wird deutlich, dass die gesellschaftliche Stigmatisierung die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen, erhöht: «Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen. Vor allem, weil ich versuche, parallel ein normales Leben zu führen», so eine Befragte. «Hier steht klar der Staat in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Sexarbeitende besser geschützt sind», sagt Lelia Hunziker, Vorstand von ProCoRe und Geschäftsführerin der FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration.

Rechtlicher Schutz ist mangelhaft

«Die Mehrheit der Täter*innen sind Freier. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jeder Freier gewalttätig ist; im Gegenteil, so gibt über die Mehrheit der Befragten an, dass sie die Freier als respektvoll empfinden. Dieses Resultat bestätigt die bisherige internationale Forschung, die zeigt, dass dort, wo Sexarbeit legal ist, Gewalt generell abnimmt, gerade auch Gewalt durch Polizei oder Passant*innen», so Lorena Molnar, Autorin der Studie. Dennoch braucht es dringend weitere Massnahmen, um die Sexarbeitenden in der Schweiz besser vor Gewalt zu schützen. Diese betreffen den rechtlichen Rahmen, die Prävention, die Strafverfolgung sowie die Unterstützung für Betroffene. 

Lancierung der Schweizer Koalition für die Rechte von Sexarbeitenden

Um die Menschenrechte von Sexarbeitenden in der Schweiz besser zu schützen und die nötigen Massnahmen auf politischer Ebene voranzutreiben, hat sich eine Vielzahl nationaler menschenrechtsbasierter Organisationen und selbstorganisierter Kollektive von Sexarbeitenden in einer Koalition zusammengeschlossen. Olivia Jost, stellvertretende Leiterin der Fachstelle Xenia in Bern und Mitglied dieser Koalition, fordert: «Gewaltdelikte müssen zur Anzeige gebracht werden können, ohne dass jemand ausländerrechtliche Konsequenzen zu befürchten hat. Es braucht zudem eine Sensibilisierung der Gesellschaft darum, dass Stealthing unter dem neuen Sexualstrafrecht strafbar ist. Eine zentrale Rolle spielt auch die Stärkung der Anlaufstellen, um die Betroffenen nach der erlebten Gewalt zu unterstützen und einen Raum zu schaffen, in dem sich Sexarbeitende gegenseitig über die Gewalterfahrungen und mögliche Strategien austauschen können». Die Organisationen der Koalition sind sich einig: «Die Kriminalisierung der Sexarbeit verschlechtert die Situation der Sexarbeitenden. Es braucht eine Entkriminalisierung der Sexarbeit sowie den Einbezug von uns Sexarbeitenden in die politische Entscheidungsfindung – nur dies führt zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation und bietet Schutz vor Gewalt und Ausbeutung in der Sexarbeit» fasst Miss Juli, Vertreterin des Sex Workers Collective Schweiz, zusammen.

Mitglieder der Koalition für die Rechte von Sexarbeitenden: Aids-Hilfe Schweiz, Amnesty International Schweiz, Brava, Frieda, humanrights.ch, LOS, Pink Cross, Plateforme Traite, ProCoRe, Schweizerischer Katholischer Frauenbund, Sexuelle Gesundheit Schweiz, Sexworkers Collective, Transgender Network Switzerland.

Footer